Rabotnik zurück in Odessa – Teil 2
Endlich haben wir odessitischen Boden unter den Füßen, bzw. unter dem Rollstuhl. Wir passieren die ukrainische Passkontrolle, wo wir von einer gut aussehenden jungen Frau in Uniform abgefertigt werden. Rufus stockt kurz der Atem, als ein uniformierter Zöllner mit Drogenhund auftaucht, da er befürchtet, dieser könnte aufgrund der mitgeführten Medikamente anschlagen. Die Spürnase scheint sich jedoch nicht im Geringsten für uns zu interessieren. Nachdem wir unsere Stempel im Pass erhalten haben, geht es nach draußen in die Halle. Dort wartet auch schon der übliche Pulk von aufdringlichen Taxifahrern, die ich jedoch allesamt kurz und schmerzlos abwimmele. Wir werden von Vladyslav abgeholt, einem ehemaligen Seemann und Rudis Vermieter. Nach einer knappen Begrüßung fragt er mich, ob ich auf Russisch oder Englisch mit ihm kommunizieren möchte. Der Einfachheit halber entscheide ich mich für Englisch, damit auch Rufus unserem Gespräch folgen kann.
Da Vlad, nachdem er seinen Seemannsjob an den Nagel gehängt hat, zwischenzeitlich als Englisch-Lehrer arbeitet, gestaltet sich die Kommunikation überaus unkompliziert. Er kann sich vorzüglich verständigen und ich staune über seinen teils gehobenen Wortschatz. Wir verlassen das Flughafengelände und müssen aufgrund von Straßensanierungsarbeiten die ersten Rollstuhl-Hindernisse überwinden. Nachdem wir Gepäck und Rollstuhl in Vlads alten Nissan verladen haben, geht es mit rund 80 Sachen rasant über die holprigen, von Schlaglöchern und Straßenbahngleisen durchzogenen Straßen. Lediglich als hinter uns ein Polizeiwagen auftaucht, wird kurzzeitig der Schleichgang eingelegt. Unser erstes Ziel ist Rufus‘ Hotel. Dort angelangt, tut die diensthabende Rezeptionistin in einer Mischung aus Freude und blankem Entsetzen kund, dass sie mich wiedererkenne.
Nachdem sie sich wieder gefasst hat, geleite ich Rufus in sein Zimmer und begebe mich anschließend zurück nach unten in den Hinterhof, wo Vlad wartet. Er bringt mich zum Appartement, welches etwa zehn Minuten vom Hotel entfernt liegt und erklärt mir bereits auf dem Weg, wie die dortige Schließanlage funktioniert. Kurz darauf finden wir uns in einer schlecht beleuchteten Straße, zwischen übervollen Mülltonnen und Alleebäumen, vor einer massiven Stahltür wieder, die in einen vergitterten Hof führt. Um diese zu öffnen, muss man die richtige Kombination aus zwei Metallstiften drücken. Am Hauseingang folgt eine noch massivere Stahltür, versehen mit dem gleichen Typ Zahlenschloss. An der Innenseite der Tür prangt ein geschriebener Zettel, der darauf hinweist, dass man die Tür nicht zu klatschen solle, da hier Menschen leben. So sehr man sich jedoch bemüht; leise schließen lässt sich die stählerne Barriere nicht.
In einem für deutsche Augen desolat wirkenden Treppenhaus, folgen wir den kahlen Betonstufen nach oben in den zweiten Stock (in Deutschland: 1. OG), wo mir noch mehr rustikale Sicherheitstechnik entgegen strotzt.
Nachdem Vlad die Tür aufgesperrt hat, offenbart sich uns noch eine zweite. Erst danach gelangen wir in die Wohnung. Man scheint wirklich in großer Angst um das wenige Hab und Gut zu leben, welches die Menschen hier besitzen. Im Flur empfängt uns Rudi, der entgegen meinen Befürchtungen bisher weder verhaftet, noch in irgendwelchen Clubs ausgeraubt wurde. Die erste Amtshandlung, nachdem Vlad mir erklärt hat, wie man die Schlafcouch ausklappt, ist eine nächtliche Einkaufstour im zweihundert Meter entfernten Supermarkt.
Hier zeigt sich ein gravierender Unterschied zur deutschen Heimat: Die Gehsteige klappen nicht bereits um 20 Uhr hoch und man muss auch nicht, falls man mal etwas vergessen hat, eine schlecht sortierte Tankstelle mit Wucherpreisen zur Rate ziehen (Ladenschlussrecht Bayern).
Das Einkaufen selbst ist auch nicht anders als in Deutschland. Ok, die Kassiererinnen sind hübscher und die Auswahl an Wodka-Sorten ist größer. Um ein paar der von Rudi georderten Artikel zu finden, der aufgrund einer Ischialgie gerade schlecht zu Fuß ist, muss ich mich durchfragen. Beruhigt stelle ich fest, dass das Russische noch nicht eingerostet ist. Zurück in unserer halbwegs modern eingerichteten Kwartira beschließe ich, es nach der anstrengenden Reise erst einmal gut sein zu lassen.
Nach einem ausgiebigen Frühstück am nächsten Morgen lege ich die zwei Kilometer zu Fuß zum Hotel zurück, um Rufus abzuholen. Die Orientierung stellt kein Problem dar, da ich mich von meinem letzten Besuch noch auskenne. Nach wenigen Metern stelle ich jedoch fest: Odessa hat sich während meiner Abwesenheit verändert. Geschäfte sind verschwunden, neue aufgetaucht, Baustellen wurden fertiggestellt, dafür an anderen Stellen die Straße aufgerissen. Was beim letzten Mal noch eine große triste Baugrube war, ist heute ein fertiggestellter und wunderschöner Park.
Im Hotel angekommen, klagt mir Rufus sein Leid. Die Tür zum Bad des Zimmers ist zu schmal, so dass er mit dem Rollstuhl kaum hineinfahren kann. Die Stimmung ist am Boden und am liebsten würde er gleich wieder abreisen. Ein schlechtes Gewissen überkommt mich, da ich ihm das Hotel empfohlen habe. Immerhin kann ich sein zweites Problem, den erschwerten Zugang zum Bett, gleich beheben. Ich entferne ein Nachtkästchen und rücke das massive Bett unter größten Anstrengungen über den Teppichboden. Zumindest kann er nun mit dem Rollstuhl gut heranfahren. Das sind natürlich Probleme, die man als Mensch mit gesunden Beinen nicht auf dem Schirm hat.
In der Hoffnung, Rufus‘ Laune heben zu können, begeben wir uns auf einen Rundgang. Auf der Straße vor dem Hotel wird schnell klar, dass man als Rollstuhl-Fahrer in Odessa mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen hat. Der gesamte Boulevard ist zu einer einzigen großen Baustelle verkommen. Der Fußgänger-Verkehr hat sich auf die Straße verlagert und an allen Ecken und Enden türmen sich Hindernisse auf.
Ich lasse mich nicht entmutigen und schiebe Rufus die leichte Steigung nach oben, manövriere um Hindernisse, weiche Schlaglöchern und achtlosen Fußgängern aus. Schnell habe ich den Bogen raus. Ohne Hilfe hätte man mit dem Rollstuhl hier keine Überlebenschance. Die notwendigen Techniken, beispielsweise zur Überwindung einer Bordsteinkante, sind für mich selbsterklärend. So erreichen wir nach wenigen hundert Metern Rudis und mein einstiges Stammcafé. Dort gibt es erst einmal einen Cafe Americano und ein hervorragendes Croissant.
Am gegenüberliegenden Gebäude, auf der anderen Straßenseite, wird wie wild geflext und geschweißt. Ohne Schutzbrille, versteht sich. Ich beobachte einen Bauarbeiter, der mit Jogginghose und Clogs zu Gange ist. Arbeitsschutz scheint hier ein absolutes Fremdwort zu sein.
Während man in der deutschen Heimat überwiegend verwaiste Baustellen vorfindet, wo zwar allerlei Gerät herumsteht, aber kein Mensch weit und breit zu sehen ist, schreitet man hier kurzerhand zur Tat. Wo der Bürgersteig heute noch eine wirsche Sandwüste ist, so ist er am nächsten Tag bereits gepflastert und wieder begehbar. Von einer solchen Effizienz kann man bei uns wahrlich nur träumen. Und das, obwohl die Arbeiter hier unter miesesten Bedingungen und für lausigste Gehälter arbeiten. Oder gerade deshalb.
Als wir unseren Kaffee genießen, stolpern zwei betrunkene Männer vorbei und halten inne. Sie beginnen lautstark damit, über eine beschädigte Bodenleiste auf einer Rampe des Gehwegs zu lamentieren. Ein Angestellter des Lokals bringt unsere Croissants an den Tisch und wird sogleich in harschem Befehlston angewiesen, das Problem umgehend zu beheben. Wortlos und mit stoischer Ruhe nimmt er es zur Kenntnis. Am nächsten Tag ist die verbogene Leiste entfernt.
Nach unserem Imbiss hat sich die Stimmung etwas gebessert und wir beschließen, bei Rudi im Appartement vorbeizuschauen. Während ich Rufus durch die Stadt schiebe, bemerke ich die verstohlenen Blicke der Einheimischen. Auf Rollstuhlfahrer scheint man hier nicht oft zu treffen und auf ausländische schon gar nicht. Die Autofahrer verhalten sich in bemerkenswerter Weise rücksichtsvoll uns gegenüber. Als wir eine viel befahrene Straße überqueren, hält sogar die Trambahn an, um uns queren zu lassen. Nach der Überwindung weiterer Rollstuhl-feindlicher Hindernisse, erreichen wir schließlich das Appartement. Ein Rudel Katzen heißt uns willkommen.
Nun steht mir eine Mammut-Aufgabe bevor. In Ermangelung eines Aufzugs muss ich Rufus die Treppe hochziehen. Im Rückwärtsgang ziehe ich den Rollstuhl an die erste Stufe heran und verlagere das Gewicht nach hinten. Dank gestähltem Rücken und mit der richtigen Technik, geht es Stufe für Stufe nach oben. Auch hier bekomme ich den Dreh schnell raus. Als wir oben ankommen, muss ich trotzdem erst einmal durchatmen. Die gut 90 Kilogramm die Treppe nach oben zu befördern, betrachte ich als gutes Training. So komme ich auch im Urlaub nicht aus der Form.
Zur Belohnung gibt es in der Küche erst einmal einen ausgiebigen Umtrunk mit Rudi und Rufus. Wodka-Orange steht auf dem Plan und untermalt von klassischen Metal-Hymnen, die aus einem Akku-Lautsprecher dröhnen, leert sich die Flasche Zubrówka standesgemäß schnell.