Rabotnik zurück in Odessa – Teil 3
Die nächsten Tage bringen wir damit zu, die Stadt zu erkunden. Schnell merke ich, dass man mit dem Rollstuhl hier nahezu überall hin gelangen kann, vorausgesetzt, man verfügt über die entsprechende Hilfe. So sollte einem ausgedehnten Ausflug zum Strand nichts im Wege stehen. Obwohl ich die Stadt bei unserem letzten Besuch bereits ausgiebig erkundet habe, entdecke ich doch immer wieder etwas Neues. Odessa lebt und ist einer ständigen Veränderung unterworfen. Als uns an einer Hauswand eine riesige Katze entgegenblickt, halte ich für einen Moment inne und lasse dieses eindrucksvolle Kunstwerk auf mich wirken. „Du bist für immer für jene verantwortlich, die du zähmtest“, lautet die tiefsinnige Botschaft des Künstlers.
Wir schlendern weiter, weichen den üblichen Rollstuhl-Fallen aus und lassen unsere Blicke über die Schaufenster einer Geschäftsmeile schweifen. Einer der Läden präsentiert uns seinen, für deutsche Verhältnisse, brisanten Inhalt. Dies ist wohl dem liberalen ukrainischen Waffenrecht geschuldet. Ein Schnellfeuergewehr für den Hausgebrauch könnte eine Überlegung wert sein, allerdings müsste ich dann die Heimreise besser mit dem Auto antreten. Der Preis wäre jedenfalls erschwinglich, wenngleich ich sicher bin, ein solches Modell auf dem Markt noch günstiger zu bekommen.
Der Umstände halber verwerfe ich den Gedanken wieder. So setzen wir unseren Weg fort, heute fällt das Schieben des Rollstuhls überwiegend in Rudis Aufgabenbereich. Da ihm dies eine entlastende Haltung für seinen Rücken bietet, könnte man beinahe von einer Symbiose sprechen. Nur an den kniffligen Stellen übernehme ich. Davon gibt es hier mehr als genug. Immer wieder tauchen auf den Gehsteigen Hindernisse wie Baustellen, Schlaglöcher oder rücksichtslos parkende Autos auf und zwingen uns, Umwege zu nehmen oder auf die Straße auszuweichen. An manchen Zebrastreifen befinden sich rollstuhl-taugliche Absenkungen, an anderen wiederum keine. Auch Bordsteine mit einer Höhe von mehr als 20 Zentimetern sind hier keine Seltenheit.
Schließlich erreichen wir den Stadtpark, der uns im weiteren Verlauf direkt an das Schwarze Meer führt. Dort treffen wir auf einen älteren Mann im Rollstuhl, der dort tagtäglich unermüdlich auf dem Akkordeon spielt und den ich noch vom letzten Mal kenne. Wir gesellen uns kurzerhand zu ihm und stecken ihm ein paar Scheine in den Becher. Er bedankt sich überschwänglich und wir kommen ins Gespräch. Er will wissen, woher wir kommen. Nachdem ich ihn darüber aufgeklärt habe, dass wir aus Deutschland sind, erkundigt er sich, was Danke auf Deutsch heißt, um sich im Anschluss nochmals in unserer Sprache zu bedanken.
Nach unserem kurzen Plausch und einer herzlichen Verabschiedung geht es weiter. Wir folgen einer abschüssigen Straße und erreichen schließlich die Strandpromenade. Der Himmel ist wolkenverhangen und für den späten Nachmittag hat sich Regen angekündigt. Davon lassen wir uns natürlich nicht abhalten. Das Meer begrüßt uns mit starkem Wellengang und lädt nicht gerade zum Baden ein, zumal es für September bereits ungewöhnlich kalt ist. Regelmäßig schlägt die Brandung gegen eine der Betonmauern und die Gischt spritzt meterweit über den Steg.
Im Vergleich zum Mai wirkt der gesamte Strand wenig belebt und auch der Grillstand „Onkel Mischa“, bei dem wir einst köstlich speisten, ist zwischenzeitlich verschwunden. Nach einigen zurückgelegten Kilometern finden wir neben einem Imbissstand eine ausgewiesene Behindertentoilette vor. Rufus will die seltene Gelegenheit nutzen, um sich zu erleichtern. Er kann zwar mit dem Rollstuhl in die Kabine fahren, die Tür lässt sich dann jedoch nicht mehr schließen. Ich frage mich, welche Intelligenzbestie sich diese halbseidene Konstruktion wohl ausgedacht haben mag und schirme ihn mit meinem Körper gegen etwaige neugierige Blicke ab.
An solchen Beispielen zeigt sich die örtliche Rückständigkeit am gravierendsten. Zumindest an dieser Stelle wirken die Bemühungen um Fortschrittlichkeit und moderne gesellschaftliche Entwicklung, wie gewollt und nicht gekonnt. Routiniert und mit der notwendigen Coolness wahrt Rufus in der gegebenen Situation die Würde und wir lassen das stinkende Loch hinter uns. Die Wolken verdichten sich weiter und aufgrund des angesagten Wetters, treten wir die Rückreise an. Natürlich werden wir auch den gesamten Rückweg zu Fuß meistern. Die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ist in Odessa für Rollstuhl-Fahrer schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
In die gelben Minibusse beispielsweise, kommt man schon als gesunder Mensch kaum hinein, wie Rudi nüchtern und treffend feststellt. Enge und erhöhte Einstiege sowie eine zweistufige steile Treppe im Türbereich, stellen, selbst für einen Rollstuhl-Profi mit Helfer, eine nahezu unüberwindbare Barriere dar. Dass der wilde Osten nicht gerade behindertenfreundlich ist, wussten wir allerdings vorher und haben das auch keineswegs erwartet. So improvisiert man notgedrungen wo es möglich ist und gelangt trotzdem überall hin, auch wenn es manchmal etwas länger dauert.
Auf dem Weg zurück überholt uns eine Gruppe Matrosen, die zügig in Richtung Innenstadt marschiert. Odessa ist die größte Hafenstadt der Ukraine, daher ist die Berufswahl des Seefahrers hier nichts Ungewöhnliches. Eine kühle Brise pfeift uns um die Ohren und das herabgefallene Laub führt auf dem gepflasterten Boden skurrile Tänze auf. Auch am Schwarzen Meer hält der Herbst in all seiner Farbenpracht langsam Einzug und lässt uns erahnen, wie unwirtlich und bitterkalt die Winter hier sein mögen.
Auf den Wunsch meiner beiden Begleiter hin, halten wir an einem Café, welches uns bereits auf dem Weg zum Strand aufgrund seiner deutschen Aufschrift auffiel. Die Lokalität stellt sich allerdings schnell als Reinfall heraus und die Bedienung versteht weder Deutsch noch Englisch. Auch mit den angepriesenen deutschen Spezialitäten ist es nicht weit her. Der Kaffee schmeckt beschissen und als Rudi anstatt des bestellten grünen Tees auch noch Schwarztee serviert bekommt, sind wir im wahrsten Sinne des Wortes bedient. Ein Trinkgeld für die unbeholfene Bedienung gibt es nach der Reklamation am Ende nur aus Gründen des Anstands.
Als wir kurz darauf die Oper erreichen, haben sich die Wolken bereits zu einer dunklen Masse zusammengezogen, die nichts Gutes verheißt. Auf Rufus‘ Wunsch hin bringen wir ihn zum Hotel zurück, um uns anschließend selbst auf den Heimweg zu begeben. Wir haben etwa ein Viertel unserer Strecke zurückgelegt, als das Unwetter losbricht. Heftige Windböen schneiden sich durch die Straßen, reißen Schilder um und ganze Äste fliegen durch die Luft. Kurz darauf folgt ein starker Platzregen. Wir ziehen die Köpfe ein, halten uns an die Mauern der Gebäude und legen einen Zahn zu.
Plötzlich passiert es und ich werde von einem herabfallenden Ast getroffen. Glücklicherweise fällt mir das Trum zwischen Schulter und Nacken ins Muskelpolster, sodass größere Blessuren oder gar eine Gehirnerschütterung ausbleiben. Durchnässt bleiben wir in der Passage einer Unterführung stehen und beschließen, etwas zu warten, bis der Wolkenbruch sich gelegt hat. Ein sympathischer junger Ukrainer, der wohl den gleichen Gedanken hatte wie wir und offenbar unsere Unterhaltung aufgeschnappt hat, spricht uns an. Er kann Deutsch und das gar nicht mal so schlecht. Wir plaudern ein wenig und so vergeht auch die Zeit.
Der Regen lässt kurze Zeit später etwas nach, also verabschieden wir uns und setzen den Heimweg fort. Nach dem Wechsel auf trockene Kleidung, werden unter dem Sound von Epica die Restbestände von Wodka, Orangensaft und Eiswürfeln konsumiert. Was man eben so macht, an einem verregneten Wochentag in Odessa.
Im nächsten Kapitel werde ich mich den Schattenseiten Odessas widmen.