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Rabotnik in Odessa – Teil 2

Es ist unsere erste Nacht in Odessa. Der Hotelaufzug fährt uns vom vierten Stock des Gebäudes nach unten. In der Ukraine, wie auch in Russland, ist das Erdgeschoss stets als erster Stock deklariert. Dort angelangt, führt uns der Weg durch einen massiv kameraüberwachten Hinterhof direkt auf die Prachtmeile der Stadt. Hier reihen sich Lokale und Bars aneinander, die Bürgersteige sind von Menschen gesäumt und hektisches Hupen hallt von nah und fern durch die Straßen. Stimmengewirr, Musik, der Geruch von Abgasen und die bunten Lichter der verschiedenen Leuchtreklamen und Straßenlaternen strömen auf unsere Sinne ein. Wir schlendern umher und verschaffen uns einen ersten Eindruck. Sofort fällt mir der erste gravierende Unterschied zwischen hier und meiner Heimat auf: die Frauen.

Odessa
Der Stadtkern bei Nacht: Stets gut belebt.

Hässliche Damen scheint es hier grundsätzlich nicht zu geben und auch das Geschlechterverhältnis ist zu ihren Gunsten stark unausgeglichen. Fein gekleidet, gut geschminkt und aufgemacht, präsentieren sie sich in stets femininer Haltung und streifen in anmutiger Eleganz durch die Nacht. Frauen, die als solche wahrgenommen werden wollen und keinen Hehl aus ihrer Weiblichkeit machen. Schwung in der Hüfte und aufrechter stolzer Gang gehören zum guten Ton. In Deutschland weiß ich teilweise auf 50 Meter Entfernung nicht, ob da nun ein Mann oder eine Frau des Weges kommt. Und nein, ich habe keine Sehschwäche, sondern sogar ein ausgesprochen gutes Sehvermögen. Schmunzelnd nehme ich diese Art der ukrainischen Gegebenheit hin und komme aus dem Schauen gar nicht mehr heraus.

Odessa
BMW X5 Stretchlimo am Prospekt

Nach einem kurzen Rundgang in der näheren Umgebung des Hotels, beschließen wir, in einer Bar Platz zu nehmen. Das Ambiente wirkt gepflegt und das Personal scheint freundlicher Natur. Wir sitzen auf einer bequemen Couch in einer Art überdachten und erhöhten Terrasse, die sich auf dem Gehsteig befindet. Viele Pärchen und junge Menschen sitzen herum und an fast jedem Tisch steht eine Shisha. Ich bestelle einen Belyy Russkiy (White Russian) für 99 Hrywnja, was umgerechnet etwas mehr als drei Euro entspricht. Kurz darauf steht auch schon der erste Bettler neben uns, standesgemäß heruntergekommen, mit Pappbecher und Krücken. Auf Russisch bitte ich ihn höflich, mir aus den Augen zu gehen, und ignoriere ihn anschließend so lange, bis er von dannen zieht und die nächsten potenziellen Opfer anpeilt.

Odessa
Der White Russian ist nicht schlecht. In Deutschland habe ich allerdings auch schon bessere getrunken.

Ich beobachte ihn, wie er sich bei jedem Schritt, schlecht gespielt, auf seine Krücken stützt. Diese benötigt er nicht wirklich, zudem ist er für einen Bettler erstaunlich gut genährt. Die gewerbsmäßige und aufdringliche Bettelmafia gehört in Odessa zum Stadtbild und man begegnet ihr im Zentrum an nahezu jeder Straßenecke. Im weiteren Verlauf unseres Aufenthalts wird dies dazu führen, dass ich sämtliche russische Formen von »Verpiss Dich!«, innerhalb von kürzester Zeit perfekt drauf habe. Mit Freundlichkeit kommt man hier nicht weit, Härte und Bestimmtheit sind gefragt. Auch vor dem Einsatz von Kindern schrecken diese skrupellosen Clans nicht zurück. Die wirklich Armen hier betteln nicht, sie holen sich das noch Essbare aus den Mülltonnen.

Odessa
Echte Armut in Odessa

Die etwa zehn Meter Luftlinie entfernte Ampel hat wieder auf Grün umgeschaltet und die Blechkolonne setzt sich lautstark brummend in Bewegung. Auffallend ist die hohe Anzahl an Autoposern, welche mit penetrant plärrenden Kisten ihre Runden drehen und an der Ampel grundsätzlich Vollgas geben. Das kenne ich natürlich zur Genüge aus meiner Heimat, weshalb es mich nicht wirklich zu erschüttern vermag. Der einzige Unterschied ist, dass die Mehrzahl dieser Kisten in Deutschland wohl keine TÜV-Plakette mehr bekäme. Hier tritt man den alten Schrott über die desolaten Straßen, den man bei uns aufgrund von technischen Mängeln und Unwirtschaftlichkeit längst aussortiert hat. Nach zwei Drinks lassen wir den Abend ausklingen und machen uns zurück auf den Weg ins Hotel.

Odessa
Unsere Stammbar bei Tag

Die Empfangsdame hatte uns darüber informiert, dass es unter Umständen heute kein fließendes Wasser gäbe. Ich drehe den Wasserhahn auf und stelle erleichtert fest, dass dies nicht der Fall ist. Allerdings ist das Leitungswasser stark gechlort. Das Bett ist bequem und zum Fenster dringt die Lärmkulisse der Großstadt herein. Mit etwas mehr als einer Million Einwohnern, geht Odessa ja auch locker als solche durch. Nach einer erholsamen Nacht starten wir gut ausgeruht mit einem deftigen Frühstück. Anschließend gehts wieder raus auf Erkundungstour, diesmal unter der Sonne. Es hat angenehme zwanzig Grad und eine permanente kühle Brise drückt sich durch die Gassen. Etwa zweihundert Meter vom Hotel entfernt liegt die Potemkinsche Treppe, das wohl berühmteste Wahrzeichen Odessas. Direkt dahinter erstrecken sich der Hafen und das endlos wirkende Schwarze Meer.

Odessa
Die Potemkinsche Treppe. Der Krankenwagen steht schon bereit.

Die monumentale Treppe fasst 192 Stufen und unser tägliches Fitnessprogramm wird innerhalb der nächsten Tage darin bestehen, diese einmal von unten nach oben zu sprinten. Bei unserer ersten Erkundung scheint hier ein offizieller Wettbewerb stattzufinden. Ein Bär von einem Mann legt sich eine Langhantel in den Nacken und marschiert vom unteren Ende der Treppe zügig die Stufen nach oben. Ich zähle die Hantelscheiben und komme auf ein Gesamtgewicht von respektablen 100 Kilogramm. Auf halber Strecke liegt bereits sein Kontrahent auf einer Isomatte, offensichtlich zusammengebrochen und von Sanitätern umsorgt. Von unten beobachten wir den Akteur, der langsam und wie ein Walross schnaufend in der Ferne verschwindet. Ich glaube, er schafft es, auch wenn er oben, pumpend wie ein Maikäfer, ebenfalls zusammenbrechen wird.

Odessa
Ursus auf dem Weg nach oben

Odessa ist eine Stadt der extremen Kontraste. Kaum an einem anderen Ort gehen Verfall und prunkvolle Baukunst derart fließend ineinander über. Bittere Armut und Reichtum scheinen von Haus zu Haus zu wechseln. Eine Stadt im Wandel, die sich gerade neu zu erfinden scheint und Stück für Stück versucht, die noch immer klaffenden Wunden des Maidan zu schließen. Davon zeugen Ruinen und Baustellen, die sich zahlreich über die gesamte Stadt verteilen. Ukrainisch ist die offizielle Landessprache, in Odessa spricht man jedoch fast ausschließlich Russisch. Mir soll es recht sein, da ich des Ukrainischen ohnehin nicht mächtig bin. Im friedlichen Treiben der Stadt ist von der politischen Spaltung der Bevölkerung nichts zu merken. Zumindest nicht für Außenstehende.

Odessa
Dieses Gebäude steht zum Verkauf

Ein ukrainischer Freund erklärte mir, dass Odessa anders sei, als der Rest des Landes. Langsam beginne ich zu verstehen, was er damit gemeint hat. Die Gegensätzlichkeit trieft aus allen Poren dieser dreckigen und doch so wunderschönen Perle des Schwarzen Meeres. Postsowjetischer Charme, gepaart mit westlichem Kapitalismus. Bolschewistisch angehaucht und europäisch modern zugleich. International, multikulturell und doch konventionell. Im Sommer subtropisches Klima und im Winter bitterkalt. Die Straßen wirken wie ein Drehkreuz des Ostens. Bulgarische, georgische, moldawische, polnische und litauische Autokennzeichen sind hier neben den Einheimischen am häufigsten vertreten. Aber auch der deutsche Einfluss ist deutlich zu spüren.

Odessa
Deutliche Kontraste

Man fährt Audi, BMW und Mercedes, trinkt deutsches Bier und an Imbissständen wird klassische germanische Kost wie Bratwürste mit Sauerkraut angepriesen. Deutsch spricht allerdings niemand und man begegnet so gut wie keinen deutschen Touristen. Zumindest in der Gastronomie und Hotellerie scheint sich Englisch immer mehr als akzeptierte Fremdsprache durchzusetzen, was meinem Begleiter zugutekommt. Der Altersdurchschnitt der Bevölkerung liegt gefühlt weit unter dem deutschen. Alte Menschen trifft man hier erstaunlich wenige. Beim Schlendern durch die Stadt kommt man keine hundert Meter weit, ohne von irgendjemandem angesprochen zu werden. Bettler, Prostituierte, Männer und Frauen die einen in die Casinos locken wollen, Bootstouren anpreisen oder Führungen in die Katakomben verkaufen.

Odessa
Deutsche Einflüsse in Odessa

So avanciere ich schneller zum Meister des Abwimmelns, als es mir lieb ist. Einer der Krückenbettler scheint uns regelrecht zu verfolgen und stöbert uns an unterschiedlichsten Orten zu verschiedensten Zeiten auf. Bei unserer vierten Begegnung erlaube ich mir einen Spaß, begrüße ihn überschwänglich und erkundige mich nach seinem Befinden. In schwer verständlichem Russisch erklärt er mir, wie arm und krank er doch sei und wie schlecht es ihm erginge. Er müsse hungern, tagtäglich ums nackte Überleben kämpfen, habe eine Familie zu ernähren. Nichteinmal richtige Schuhe könne er sich leisten. Mein Blick schweift auf seine Wampe und ich krame 50 Kopeken aus dem Geldbeutel, was aufgerundet etwa zwei Cent entspricht.

Odessa
Der Verfall ist allgegenwärtig

Natürlich ist ihm das zu wenig und er lamentiert weiter, lässt die Münze demonstrativ auf den Boden fallen. Ich bücke mich nicht und lasse ihn in seinem fabulierten Elend zurück. Den Kommentar, er solle sich doch einfach eine anständige Arbeit suchen, kann ich mir nicht verkneifen. Von diesem Tag an wird er mich nicht mehr ansprechen. Trotz dessen scheint man hier mit der Zeit einen Reflex zu entwickeln, der einen unweigerlich zusammenzucken lässt, sobald einem jemand mit seltsamer Gangart oder einem Kaffeebecher begegnet. So passiert es meinem Begleiter oder mir des Öfteren, dass wir unbescholtene Bürger des Bettelns verdächtigen, obwohl sie einfach nur einen Coffee to go mit sich herumtragen oder an einer echten Behinderung leiden.

Odessa
Zeitgenössische Kunst

Als der Magen knurrt, setzen wir uns an einen Tisch in einem der zahlreichen Straßenlokale. Eine Katze streift mir um die Beine. Auch sie gehören in großer Zahl zum Stadtbild von Odessa. Sie sorgen für Ordnung, Ratten und Mäuse scheint es so gut wie nicht zu geben. Ausnahmsweise haben wir ein Restaurant gewählt, welches über einen ausgesprochen schnellen Service verfügt. Normalerweise ist das Personal hier an Ineffizienz nur schwer zu überbieten. Für einen Bereich, der in Deutschland von einem Kellner bedient würde, stehen hier teilweise fünf Bedienstete, die jedoch zusammen dreimal so lange brauchen. Die Küche reicht von traditionell deftig bis leicht und modern. Fisch, Hühnchen und Gemüse dominieren die Speisekarten. Nach dem Essen äußere ich mich lobend über den Service und fordere die Rechnung an. Diese wird in einer Mappe an den Tisch gebracht und wir legen das Geld hinein.

Besuch beim Essen

Getrenntes Bezahlen kennt man hier nicht. Wir lassen ein gutes Trinkgeld springen, normalerweise gibt man etwa 10 Prozent. Einige Stunden später ist die Sonne am Horizont verschwunden und das Nachtleben hält Einzug. Wir sitzen in unserer zwischenzeitlichen Stammbar und beobachten die Straße. Ein nagelneuer Audi R8 mit ukrainischem Kennzeichen hält an der Straße direkt vor dem Lokal und wird von einem der Parkeinweiser, die hier überall herumlaufen, in die Parklücke gewiesen. Einen Augenblick später taucht mein guter Freund der Krückenbettler auf, wie aus dem Nichts. Amüsiert beobachte ich, was passiert. Der Fahrer des R8 und der Bettler beginnen eine Unterhaltung, jedoch sitze ich zu weit weg, um zu verstehen, was sie sagen. Langsam drängt sich mir der Verdacht auf, dass die beiden sich gut kennen. Der schnittige Sportwagen ist offenbar durch Bettelgelder finanziert. Dieses Beispiel gewährt einen tiefen Einblick, wie die Welt in Odessa zu funktionieren scheint.

Odessa
Blick auf den Hafen

Am folgenden Tag versorgen wir uns in einem Laden mit ein paar Flaschen Morshynskaya, da sich das Leitungswasser nicht zum Genuss empfiehlt. Lebensmittel sind hier wesentlich günstiger als in Deutschland, Konsumgüter hingegen kosten nicht weniger. Beim Bezahlen können die Scheine grundsätzlich nicht klein genug sein, ständig wird man gefragt, ob man es nicht passender hat. Darauffolgend kommt immer die Frage, ob man eine Plastiktüte (Pakjet) benötige, selbst wenn man nur eine Flasche Wasser kauft. Aus ökologischen Gründen lehne ich Plastiktüten jedoch grundsätzlich ab. Zu späterer Stunde dieses bewölkten Tages soll es noch spannend werden, da sich mein Begleiter via Dating-App mit einer Einheimischen verabredet hat.

Odessa
Eine Stadt im Wandel: Baustellen, soweit das Auge reicht

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