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Schulsystem: Die Abrechnung

Schon als Kind hasste ich es, wenn mich der Montag mit seinen kalten Händen, entgegen meiner biologischen Uhr, der warmen mütterlichen Stube entriss. Man schrieb das Jahr 1988, als die Mühle des bayerischen Schulsystems damit begann, mich durch den Fleischwolf der Egalisierung zu drehen. Durch den jahrelangen Vollzug im städtischen Kindergarten, wo man Kindern für schwere Vergehen wie „wildes Spielen“ drakonische Strafen auferlegte und sie tagelang stigmatisierte, war ich jedoch bereits bestens darauf vorbereitet. Das dachte ich zumindest. Ich freute mich auf die Schule, denn sie war etwas Neues, etwas unheimlich Aufregendes. Endlich würde ich interessante Dinge wie Lesen, Rechnen oder Geschichte lernen. Dass das Schulsystem mit aller Gewalt versuchen würde, mich meiner Identität zu berauben, ahnte ich damals freilich noch nicht. So ließ ich mich wie ein ahnungsloses Rindvieh an die Schlachtbank führen, mit Schultüte und viel zu großem Schulranzen.

Wer aus der Norm fällt, wird nicht gefördert, sondern schikaniert

Aber selbst wenn ich es damals schon besser gewusst hätte, so hätte es mir wohl kaum einen Vorteil gebracht. Ich hatte keine Wahl. Genauso wenig wie all die anderen Schafe, mit denen ich in einem unterkühlten Klassenzimmer voller unbequemer Holzstühle zusammengepfercht wurde. So pflanzte ich mich an meinem ersten Schultag im beschaulichen Oberbayern neben einen verschüchtert wirkenden Jungen mit großer Brille, der aussah wie ein berühmter Zauberlehrling. Natürlich wusste damals noch niemand, wer Harry Potter ist, zu seinem großen Glück. Den hätten sie sonst zerfleischt. Der erste Roman dieser Serie sollte erst ein knappes Jahrzehnt später, genau genommen im Jahre 1997, erscheinen. Wie es das Schicksal wollte, wurden mein Banknachbar und ich beste Freunde. So viel zu meinem ersten und einem der wenigen positiven Kontakte mit dem bayerischen Schulsystem.

Die Lehrerin war eine vom ganz alten Schlag, die uns am liebsten noch mit dem Rohrstock verprügelt hätte, aber es nicht mehr durfte. So musste sie sich darauf beschränken, uns ihre verbitterte spießbürgerliche Weltanschauung auf verbale Weise aufzuoktroyieren.

Schulsystem
Je früher sie es lernen, desto besser.

Es zogen die Jahre ins Land und die 90er hielten Einzug. Das bayerische Schulsystem bereitet einen auf vieles vor, nur auf eines ganz bestimmt nicht: das Leben. Still sitzend mussten wir den aufgezwungenen Einheitsbrei über uns ergehen lassen. Bei mir gipfelte dies darin, dass ich stundenlang verzweifelt auf die Wanduhr starrte und den Sekundenzeiger beobachtete, wie er mit quälender Langsamkeit über das Zifferblatt wanderte. Stunde um Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche. In meiner mentalen Unterforderung begann ich irgendwann damit, Gemälde zu zeichnen. Diese wurden mir dann regelmäßig unter Arien der Empörung, unvollendet unter dem Stift weggerissen. Aufgrund meiner Kunstwerke wurden mir allerhand geistige und charakterliche Defizite, bis hin zur sexuellen Abnormität angedichtet. In regelmäßigen Abständen musste ich mich für mein Talent erklären und auch meine Eltern wurden mit diversen Unterstellungen behelligt.

Die Grundlagen des Faschismus werden bereits auf dem Pausenhof gelehrt

Einzig der Pausenhof bot Abwechslung in dieser grauen Tristesse des Schulalltags. Rennen durfte man dort zwar nicht, dafür waren Mobbing, Prügel, Sachbeschädigung, gegenseitiges Beleidigen und sonstige Erniedrigungen fester Bestandteil des Programms. Erstmals kam ich dort mit Begriffen wie „Arschloch, Hurensohn“ und „Ficker“ in Kontakt. Später waren dann Ausdrücke wie „Nutte, Schwuchtel“ und Schlimmeres an der Tagesordnung. Wusste sich das Gegenüber angesichts etwaiger übermächtiger Verbalattacken nicht mehr zu helfen, folgte die Faust in den Bauch als probate Antwort. „Brillenschlangen, Pickelfressen, Fettsäcke, Segelohren“ und „Muttersöhnchen“ waren offiziell erklärtes Freiwild und durften nach Herzenslust geschunden und gepeinigt werden. Auch ich war als Kind fränkischer Einwanderer schnell als „dreckerter Saupreiß“ gebrandmarkt. Neben „Dumbo“, aufgrund abstehender Ohren mein zweiter Spitzname. Die Eingriffe der Lehrer erfolgten spärlich und die Konsequenzen waren im besten Falle profane Dinge wie Strafarbeiten, Nachsitzen oder das Herbeizitieren der Eltern, die offensichtlich in ihrer Erziehungsaufgabe versagt hatten.

Schulsystem
Nicht jeder ist hart genug für die Schule.

Auch ein Vorsprechen beim Schuldirektor verfehlte meist die erzieherische Wirkung. War der Vater dann noch in der CSU, war der Zögling fein raus. Die Arbeit der Lehrer war es, uns die Gleichförmigkeit gewaltsam einzutrichtern und so mehrte sich in mir bereits der Verdacht, in einem konformistischen Erziehungslager gelandet zu sein. Anstatt einer Aufarbeitung der traumatisierenden Schulhof-Erlebnisse und Nachhilfe in sozialer Kompetenz, gab es Standpauken von bigotten Religionslehrerinnen, die ungehorsame Schüler aburteilten und ihnen nach dem Tode einen Aufenthalt in der Hölle oder mindestens im Fegefeuer in Aussicht stellten.

Als ich eines Tages die Frage in den Raum warf, ob Adam und Eva Affen gewesen seien, da der Mensch doch von diesen abstamme, wurde ich unter dem Gelächter meiner Klassenkameraden kurzerhand des Unterrichts verbannt. Der Ruf als blasphemischer Ketzer war mir fortan gewiss. Abgesehen von derartigen Höhepunkten, wurde mir in regelmäßigen Abständen attestiert, dass ich zu dumm sei, einen Aufsatz in meiner Muttersprache zu schreiben oder die Grundlagen der Geometrie zu beherrschen.

Psychoterror und Demütigungen waren an der Tagesordnung

Zu Unterrichtsbeginn schritt der Klassenleiter wie ein Gefängnisaufseher durch die Reihen, um die Hausaufgaben zu kontrollieren. Bei Nichterledigung wurde man herausgezogen wie ein Schwerverbrecher und die öffentliche Demütigung war einem sicher. Einige der Lehrkörper stachen durch besondere Motivationsfähigkeiten heraus. So lebten sie beispielsweise im Sportunterricht ihren unterdrückten Faschismus aus und diffamierten langsame Läufer als „lahme Säue“ und „Sportkrüppel“. Jungen, die schlecht im Fußball waren, durften sich als „Nullen, Waschlappen“ und „Weicheier“ bezeichnen lassen, während die Trainerpfeife auf dem prallen Wohlstandswanst ruhte und die Pumpe des Schinders bluthochdruckbedingt kurz vor dem Exitus stand.

Sportliche Leistungsträger wurden stets lobend hervorgehoben, während man die weniger talentierten als minderwertiges Genmaterial der Verächtlichkeit preisgab. So quälte ich mich durch die Grundschule, nach deren Abschluss ich von diesem Schulsystem bereits die Schnauze voll hatte. Der Schritt in die fünfte Klasse war der erste große Scheideweg, an welchem die Spreu sich vom Weizen trennte. Die erfolgreiche Elite durfte samt Harry Potter auf das Gymnasium wechseln, die Versager kamen auf die Hauptschule.

Schulsystem
Wenn der wüsste, was in seinem Namen so alles gepredigt wird.

Ich gehörte aufgrund meiner schlechten Mittelmäßigkeit zu letzteren und versuchte weiterhin, mich dem rauen Umgangston anzupassen, auf dem Schulhof unsichtbar zu sein für die Größeren und Stärkeren, im Unterricht möglichst von den Lehrern nicht bemerkt und erniedrigt zu werden, zuhause so zu tun, als sei alles in Ordnung. Natürlich gelang mir das nur mit mäßigem Erfolg und so war ich schnell als Querulant, Klassenkasper oder schwieriger Fall klassifiziert, aus dem nie etwas werden würde. Wusste ich doch im Alter von zwölf Jahren noch nicht einmal, welchen Beruf ich einmal ergreifen wollte. Dass meine freie Berufswahl zu diesem Zeitpunkt bereits stark eingeschränkt war, war mir noch nicht einmal wirklich bewusst. Dafür wurden mir aber schon einmal die Folgen des sozialen Abstiegs vor Augen geführt. Laut Aussage des damaligen Klassenleiters würden Leute wie ich, zusammen mit anderen Asozialen, später einmal unter der Brücke hausen.

Auch Kunst unterliegt im bayerischen Schulsystem strengen Normen

Lediglich das Fach Kunst bereitete mir einigermaßen Freude, doch auch hier war ich der subjektiven Meinung der verantwortlichen Lehrkraft gnadenlos ausgeliefert. So wurde mir strikt vorgeschrieben, wie etwas zu zeichnen oder zu machen sei, andernfalls hätte ich mit einer schlechten Note zu rechnen; die ich dann meist auch bekam. Den Begriff der Entarteten Kunst, konnte man sich dabei offenbar nur mit viel Mühe verkneifen. Die Beharrlichkeit meiner Eltern führte schließlich dazu, dass ich nach zwei Jahren Hauptschule, nach einer qualvollen Aufnahmeprüfung und Zeiten des Bangens, endlich auf eine höhere Schule wechseln durfte. Dort waren zwar die Lehrer besser, fortan sah ich mich allerdings dem enormen Druck ausgesetzt, nun stärkere schulische Leistungen erbringen zu müssen, um nicht wieder in den Vorhof der Hölle abzusteigen. Ich tat mein Bestes und versuchte ganz nebenbei, zu überleben.

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Für manche wird der Schulgang zur schweren Bürde.

Die Pausenprügeleien wurden nicht weniger und ich ertrug weiterhin die subtiler gewordenen Bloßstellungen einiger Erziehungsbeauftragter, da ich nun nicht mehr nur des Deutschen zu dumm, sondern auch des Englischen zu blöd und der Mathematik unfähig war. Von den Mitschülern wurde man nun nicht nur mehr wegen seines Aussehens oder seines Dialekts drangsaliert, sondern auch wegen des Tragens der falschen Kleidungsmarke. Hier entschieden bereits feinste Nuancen zwischen Akzeptanz und Ausgrenzung. Die einsetzende Pubertät tat ihr Übriges und erhob die gegenseitigen Herabwürdigungen durch Sexualisierung auf ein ganz neues Niveau. Ich wurde mit den ersten Versuchen von Schutzgelderpressung konfrontiert, kassierte Prügel für das Tragen eines Mickey-Mouse-Pullovers und musste mich wegen abgetragener Jeans als „Pennersohn“ bezeichnen lassen. Auch antisemitische Ausdrücke weit unter der Gürtelline wurden mir völlig unbegründet an den Kopf geworfen, obwohl ich damals noch Zwangsmitglied in der katholischen Kirche war.

Alternativen werden im konventionellen Schulsystem gezielt verächtlich gemacht

Weiterem Leid konnte ich entgehen, in dem ich für den einen oder anderen Peiniger die Hausaufgaben erledigte. Ich mogelte mich bis zur zehnten Jahrgangsstufe durch, wo ich nach viel Tränen und Gepauke schließlich einen mittelmäßigen Abschluss zustande brachte und beschloss, meine schulische Karriere an diesem Punkt vorerst an den Nagel zu hängen. Das bayerische Schulsystem ist für mich ein Sinnbild des Totalversagens. Es lehrt die unmenschliche Unterdrückung des kindlichen Bewegungsdrangs, zerstört jegliches Selbstvertrauen und konterkariert die individuelle geistige Entwicklung auf allen Ebenen. Alternative Schulen, die es besser machen oder es zumindest versuchen, müssen die Eltern sich leisten können. Einmal durfte ich den Ausführungen eines konventionellen Lehrers beiwohnen, der darüber sinnierte, dass diese sogenannten Montessori- und Waldorfschulen ein Auffangbecken für Dumme, Minderbegabte, geistig Zurückgebliebene oder der Brut von irgendwelchen Hippies seien, die nach einem Jahrzehnt Bildung nichts anderes zustande brächten, als ihre Namen zu tanzen.

„Du bist so blöd, du gehörst auf die Baumschule.“

Als sei das Tanzen eines Namens etwas Verwerfliches. Das klassische Schulsystem lehrt, dass es ein Verbrechen ist, von der Norm abzuweichen und legt die Grundsteine für spätere Laufbahnen bereits in einem Alter, in welchem die Betroffenen noch überhaupt nicht in der Lage sind, die Tragweite ihrer Kategorisierung zu erfassen. Stets schwebt über den Kindern das Damoklesschwert des ewigen Abstiegs, bis hin zur Sonder- oder „Baumschule“. Das faschistoide Gedankengut tropft mit viel Druck von oben nach unten, wo die Schüler sich schließlich gegenseitig damit fertig machen, weil niemand mehr unter ihnen steht. Die Opfer werden mit den Folgen alleine gelassen. Friss oder stirb gilt als die ultimative Devise in allen Bereichen.

Schulsystem
Nach jahrelangem Martyrium ist die vermeintliche Freiheit zum Greifen nah.

Ich hatte nun einen Mittleren Bildungsabschluss in der Hand, wusste aber nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Man hatte mir nicht beigebracht, dass ich nun einen Weg finden musste, um ein glückliches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Ich wusste nichts über selbstbewusstes Auftreten, über interkulturelle Kompetenz, über den Umgang mit Stress oder schwierigen Situationen, über gesunde Ernährung, das Funktionsprinzip des Kapitalismus, das Generieren von passiven Einkünften oder die Möglichkeiten des Frugalismus.

Man lernt nicht für das Leben, sondern nur über dessen Härte

Stattdessen hatte ich gelernt, dass es völlig in Ordnung ist, homophob zu sein, dass „Jude“ ein salonfähiges Schimpfwort ist und dass man zerfleischt wird, sobald man nur einen Funken Schwäche zeigt. Ich hatte gelernt, dass ich nun die nächsten 50 Jahre irgendeinen Job machen muss, um nicht durchs Raster zu fallen, dass Normabweichungen unbarmherzig bestraft werden und dass man besser Oberbairisch spricht, um nicht diskriminiert zu werden. In dem Wissen, dem System niemals zu genügen und sich künftig fortwährend abstrampeln zu müssen, um nicht völlig nutzlos zu sein, suchte ich mir meinen ersten Job in einer IT-Firma. Damals noch eine aufstrebende Branche, Goldgräberstimmung inklusive. Danach folgte die Militärzeit, die, verglichen mit der Schulzeit, der reinste Erholungsurlaub war. Auch wenn ich im Erwachsenenalter noch einmal die Schulbank drückte und dort bessere Erfahrungen machte, so blieb ich auf beruflicher Ebene doch weit hinter meinen Möglichkeiten zurück.

Abschließendes Fazit

Heute weiß ich, dass das völlig in Ordnung ist und ich niemandem etwas beweisen muss. Das bayerische Schulsystem hat mich diese Erkenntnis allerdings nicht gelehrt. Alles in allem ist es ein Armutszeugnis für ein reiches Land, in welchem Homeschooling noch immer politisch verfolgt wird. Über Generationen hinweg hat sich nicht viel verbessert, sondern die Probleme wurden lediglich verlagert. Während die Generation meiner Eltern noch mit körperlicher Züchtigung und der xenophoben Umerziehung von Linkshändern zu Rechtshändern zu kämpfen hatte, sehen sich die Kinder heute einem immer groteskeren Leistungsdruck ausgesetzt und werden mit einer neuen Dimension der kollektiven Angstmache, sowie den Möglichkeiten des digitalen Mobbings konfrontiert. Die Kultusminister und ihre Hofschranzen haben auf der ganzen Linie versagt. Für mich ist es daher an der Zeit, diesem unzureichenden Schulsystem und all seinen cholerischen Soziopathen, die Prügel zurückzugeben.

Ein guter Schulabschluss ist kein Indikator für Intelligenz. Sondern von guter Anpassungsfähigkeit.

Prof. Dr. Gerald Hüther

Anmerkung: Der ursprünglich aus dem Jahr 2019 stammende Artikel wurde kürzlich (03/2022) etwas überarbeitet. Neben kleinerer Textkosmetik wurden auch themenverwandte Links ersetzt, die nicht mehr aktuell waren. Zudem wurde der Bezug explizit zum bayerischen Schulsystem gesetzt, da es in Deutschland teilweise starke Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt. Die Auswahlmöglichkeiten in der Umfrage wurden teilweise abgeändert.

Das Schulsystem in Bayern

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Die Resonanz auf das Thema ist groß und mich erreichten mittlerweile einige Zuschriften von Menschen, die beschreiben, wie sie noch heute unter den Folgen des Mobbings in ihrer Schulzeit leiden.

Anna schreibt:

Ich hatte oft den Eindruck, dass sie es sogar genossen haben, wenn bestimmte Kinder gemobbt wurden. Das Mobbing hängt mir bis heute nach.

Franz schreibt:

Ich träume jeden zweiten Tag von der Schule. Ich glaube, das ist eine posttraumatische Belastungsstörung.

Mathias schreibt:

In der Schule ging es für mich ums nackte Überleben.

Auch interessant: Harald Lesch über das deutsche Schulsystem.