Rabotnik zurück in Odessa – Teil 4
Ich gebe es zu; die Euphorie, welche ich noch bei meinem ersten Besuch in Odessa verspürte, mag sich nicht mehr einstellen. Die Schattenseiten des Lebens hier drängen sich stärker denn je in meine Augen und das nicht allein, weil ich die Welt nun verstärkt aus dem Blickwinkel eines Menschen mit Behinderung zu betrachten versuche. Vielleicht trägt aber auch das Wetter seinen Teil dazu bei. Ich fühle mich abgebrühter, mein Auftreten wird härter und ich habe das Gefühl, auf der Straße kaum noch als Ausländer wahrgenommen zu werden. Zumindest dann nicht, wenn ich alleine unterwegs bin. Spreche ich Russisch, so hält man mich, wie schon beim letzten Mal, für jemanden aus dem Baltikum und es ist mir ganz recht, nicht als Deutscher erkannt zu werden.
Das Leben in der Ukraine scheint vor allem eines zu sein: hart und voller Entbehrungen. Viele Menschen hier arbeiten bis zu zwölf Stunden an sechs Tagen die Woche, für einen Hungerlohn. Sie klagen nicht, haben sich mit ihrem Schicksal arrangiert, aber wirklich glücklich wirken die Wenigsten von ihnen. Über die Volkskrankheit Alkoholismus spricht niemand, sie ist ein offenes Geheimnis. Und das, obwohl der Alkohol hier teuer ist, wenngleich für deutsche Maßstäbe billig. Über das unsägliche Theater, welches man in Deutschland um Diesel und Abgasnormen zelebriert, kann man hier bestenfalls müde lächeln. An manchen Tagen stinkt die Luft nach verbranntem Öl, ist stickig, die Straßen starrend vor Dreck. Die Masse an Autos und die Schiffsdiesel im Hafen fordern ihren Tribut.
Mülltrennung scheint ebenfalls ein absolutes Fremdwort zu sein. In die überquellenden Müllcontainer, die viele Straßenecken säumen, wird alles unsortiert hinein geworfen, egal ob Plastik, Papier oder Glas. Seit der russischen Annexion der Krim im Jahre 2014, erlebt Odessa eine regelrechte Renaissance als Tourismusziel. Das spült Geld in die Kassen, doch beim einfachen Volk kommt kaum etwas davon an. Während man die Vorzeigestraßen, Prachtmeilen und Denkmäler emsig renoviert und restauriert, bröckeln die Fassaden an anderen Stellen unaufhaltsam weg. Der Verfall zeigt sich umso stärker, je weiter man vom Zentrum weggelangt.
Die gigantischen Kaufhäuser und Einkaufszentren sind ebenfalls den Touristen und besser betuchten Odessitern gewidmet. Die meisten Einheimischen kommen an diesen Ort, um zu arbeiten. Die wenigsten von ihnen werden sich einen Einkauf hier leisten können. Dass Odessa sich gerade neu erfindet, spürt man an allen Ecken und Enden. Diese Metamorphose hat ihren Preis und die Schwächsten laufen Gefahr, unter die Räder zu geraten.
Gefühlt alle zwei Meter hält einem jemand die Hand oder den Kaffeebecher hin, in der ständigen Hoffnung auf ein paar Mitleids-Hrywnja. Die Menschen versuchen, nahezu aus allem Kapital zu schlagen. Männer mit Tauben, mit deren Vögeln man sich für eine kleine Spende an einem der Denkmäler ablichten lassen kann. Straßenmusikanten, Künstler, Artisten oder einfach nur schlichte Bettler, die in Lumpen herumlaufen und ihre auswendig gelernten Bettel-Arien zum Besten geben; nahezu alles ist vertreten. Ebenfalls ein beliebtes Geschäftsmodell scheint es zu sein, sich eine Cappuccino-Maschine in den Kofferraum eines Fahrzeugs zu bauen und Kaffee in den verschiedensten Sorten anzubieten. An nahezu jeder Straßenecke trifft man auf solche provisorisch anmutenden Verkaufsstände.
Ich schiebe Rufus durch den Park, als wir einer hübschen aber sichtlich talentfreien Straßenmusikantin mit Gitarre über den Weg laufen. Taktisch geschickt an einer Engstelle am Eingangstor platziert, haut sie in die Klampfe, während sie dazu jault, wie ein angeschossener Hund. Neben ihr steht ein junger Mann und streckt uns eine Blechbüchse entgegen, fordert impertinent eine Spende ein. Wir passieren das Tor und ich lasse ihn links liegen. Wer aufdringlich bettelt, bekommt von mir grundsätzlich keine müde Kopeke.
Gleiches gilt für die Angehörigen des reisenden Volkes, die einen unvermittelt penetrant von der Seite anquatschen und einem Geheimnisse aus der Hand lesen oder die Zukunft voraussagen wollen. Meistens sind es Gruppen aus mehreren Frauen, die durch die Parks streifen und ihre potenziellen Opfer auskundschaften. Ein deutliches „verpiss dich“ meinerseits und anschließend konsequentes Ignorieren verschafft Klarheit und hat sich als patente Lösung bewährt. Andere Bettler trauen sich angesichts der Tatsache, dass Rufus im Rollstuhl sitzt, erst gar nicht, uns anzusprechen.
Weniger hart reagiere ich, als uns ein herumstreunender Junge eine der Rosen aus seinem mitgeführten Strauß verkaufen will. Hier genügt ein freundliches „Nein danke“. Die Tatsache, dass in bestimmten Volksgruppen bereits die Kinder zur Erwirtschaftung von Profit instrumentalisiert werden, gehört hier zum Alltag. Der Gedanke an die Perspektivlosigkeit eines solchen Heranwachsenden, stimmt mich ein wenig traurig. Ein Beispiel, an welchem die Schattenseiten dieses schönen und zugleich so desolaten Landes besonders deutlich zutage treten.
Die Dämmerung ist hereingebrochen, aufgrund der Zeitverschiebung von einer Stunde, schon früher als in der Heimat. Gerade haben wir Rufus im Hotel abgeliefert und uns für später verabredet. Auf dem Rückweg halte ich an einem Geldautomaten, der an einer Hauswand angebracht ist. Ich hebe 2000 Hrywnja ab, was etwa 60 € entspricht. Der Automat spuckt ein dickes Bündel Geldscheine aus, welches ich umgehend in meiner Hosentasche verschwinden lasse. Mit Geld sollte ich hier auf der Straße nicht herum hantieren, wenn man bedenkt, dass ich gerade den halben Durchschnitts-Monatslohn eines Einheimischen in der Hand halte.
Dann der Schock. Der Geldautomat spuckt meine Karte nicht mehr aus. Er schreibt zwar, dass ich diese entnehmen solle, ich warte jedoch vergeblich. Kurz darauf folgt wieder die Aufforderung, dass ich meine Geheimzahl eingeben solle. Ich versuche es abermals, aber die Karte bleibt verschwunden. Rudi hält mir den Rücken frei, während sich bereits eine Schlange hinter uns bildet. Was für eine unangenehme Situation. Wieder erscheint das Eingabefeld für den PIN-Code. Eine Uhr läuft und ich habe 60 Sekunden Zeit, andernfalls würde der Automat meine Karte einziehen. Der Gedanke, dass meine Kreditkarte in irgendeinem Straßenautomaten in Odessa verschwindet, gefällt mir überhaupt nicht und macht mich entsprechend nervös.
Wieder und wieder versuche ich, das Gerät zum Auswerfen meiner Karte zu bewegen. Rudi erkennt die Situation und staubt die Wartenden hinter uns kurzerhand weg. Vielleicht ist es aber auch der Gedanke an einen kartenfressenden Bankomaten, der die Leute schließlich bewegt, es hier lieber nicht zu versuchen. Ich gebe der Sache noch einen letzten Versuch und endlich; die Karte schiebt sich aus dem Schlitz. Meine sich aufstauende Wut weicht dem Gefühl der Erleichterung. An diesem verfluchten Drecks-Teil werde ich sicher kein Geld mehr abheben.
Zu späterer Stunde erkunde ich mit Rufus zusammen das Nachtleben. Als wir an einer Ampel stehen, erblicke ich inmitten der Kreuzung eine alte Bekannte wieder. Eine Bettlerin, die in Wirklichkeit kerngesund ist, zieht wieder einmal ihr erbärmliches Schauspiel ab. Auf eine Krücke gestützt, mimt sie eine körperliche Behinderung, um des Mitleids der Autofahrer Willen. Ich staune darüber, welche Verrenkungen ein gesunder Mensch zustande bringt, nur um als behindert zu gelten. Für einige Augenblicke sehen wir uns die lächerliche Darbietung an, bevor wir schließlich die Straße überqueren.
Als ein Mann im dunklen Geländewagen tatsächlich anhält und ein paar Scheine durch das Fenster reicht, beginnt unmittelbar hinter ihm ein Hupkonzert der Verständnislosigkeit zu toben. Auf der anderen Straßenseite erwartet uns wieder einmal eine baustellenbedingte Sandwüste. Doch anstatt diese zu umfahren, will es Rufus wissen und wir steuern mittendurch. Weit kommen wir allerdings nicht, denn nach bereits etwas zehn Zentimetern bleiben wir gnadenlos stecken. Rückwärts ziehe ich ihn an die Straße und wir verewigen uns mit einer entsprechenden Spur in dem losen Untergrund.
In unserer Stamm-Bar beobachten wir an einem Nebentisch eine bekannte Konstellation. Ein etwa 60-jähriger Mann, vermutlich ein englischer Tourist mit dickem Geldbeutel, sitzt neben einer etwa 25-jährigen Ukrainerin. An ihrem Goldgräber-Blick identifiziere ich sie sofort als einen dieser abgebrühten Lockvögel, mittels derer man damals versuchte, Rudi und mich in die Falle zu locken. Ich äußere die Vermutung, dass der arme Kerl an diesem Abend wohl noch richtig abgerippt wird und ernte Zustimmung. Andererseits frage ich mich, welches Maß an Naivität es benötigt, um sich in seiner Situation ernsthafte Hoffnungen zu machen, zumal er nicht gerade ein Hingucker ist. Laut Rufus hat ein solches Opfergesicht nichts anderes verdient.
Ich beschließe, ihm eine Warnung zukommen zu lassen, sobald seine Begleitung die Toilette aufsucht. Aber diese weiß offensichtlich genau, was Sache ist und bleibt den ganzen Aufenthalt über konsequent neben ihrem Opfer sitzen. Nachdem sich das Aas auf seine Kosten den Magen vollgeschlagen hat, bezahlt er und die beiden verlassen das Lokal. Von einer örtlichen Partnersuche via Tinder oder ähnlichen Portalen ist in Odessa strengstens abzuraten. Mit mehr als 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit trifft man dort auf Hobby-Nutten, Lockvögel der lokalen Mafia oder anderes Ungemach. Meine erste Odessa-Story schlug zwischenzeitlich hohe Wellen und verschiedene Männer aus aller Welt meldeten sich aufgrund meines Berichts oder einer meiner Bewertungen. Sie berichteten von ähnlichen Erfahrungen, teilweise im gleichen Klub. In der Ukraine hat man offensichtlich noch nicht begriffen, wie nachhaltiger Tourismus funktioniert.
Nach unserem Drink bringe ich Rufus nach Hause und mache mich dann selbst auf den Heimweg. In der Küche werde ich bereits von Rudi erwartet und eine weitere nachtfüllende Wodka-Runde nimmt ihren Lauf. Als Orangensaft und Wodka langsam knapp werden, mache ich mich nochmals auf den Weg in den nahegelegenen Supermarkt, um Nachschub zu organisieren. Gut angetrunken marschiere ich aus dem Laden, unter dem linken Arm die Flasche Wodka und die Safttüte geklemmt, in der rechten Hand einen 6-Liter-Kanister Wasser. Nach etwa hundert Metern kommt mir ein Betrunkener entgegen, der mich umgehend auffordert, dass ich ihm Geld geben solle. Er hat etwa meine Statur und Größe und sieht nicht aus, wie ein Obdachloser.
Als ich ihm daraufhin selbstverständlich mitteile, dass er sich verpissen solle, wird er aggressiv und will mir ans Revers greifen. Ich mache einen Ausfallschritt nach hinten, ziehe mit der Rechten aus und lasse den Wasserkanister in seinen Kopf krachen. Erstaunlicherweise hält der windige Plastikhenkel dem Einschlag stand und der Trunkenbold fällt um, wie ein Brett. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, dass er tot ist, doch dann zuckt er, wälzt sich am Boden, hält schützend die Hände vors Gesicht und winselt um Gnade. Ich lasse den betrunkenen Haufen in seinem Elend zurück und setze den Heimweg fort.
Kurz vor dem Ziel drehe ich mich noch einmal um und beobachte aus der Ferne, wie die unglückselige Gestalt sich aufrappelt. Dann zieht er davon und ich hoffe, dass er etwas aus den Folgen seines Pseudo-Überfalls gelernt hat. Zurück in der Küche, berichte ich Rudi von meinem Erlebnis. Dieser hatte in der Zwischenzeit auch einen Kampf zu bestreiten, allerdings nur mit einer Kakerlake. Diese treten hier gelegentlich auf, in vergleichsweise kleiner Ausführung. In der Küche braucht die Viecher trotzdem niemand.
Nach diesem ereignisreichen Tag und einer ordentlichen Menge Alkohol übermannt mich auf der erstaunlich bequemen Gästecouch schließlich der Schlaf.