Rabotnik in Odessa – Teil 4
Sichtlich mitgenommen blickt mich der Taxifahrer durch die Seitenscheibe an wie Eule. Nach einer kurzen Besinnungspause beugt er sich herüber und öffnet die Beifahrertür. Sein Gesicht hat hohe Wangenknochen und wirkt ausgemergelt, seine Augen scheinen groß, er trägt eine Baseballkappe und sein dünner Körper steckt in einem Jogginganzug. Sein Alter schätze ich auf etwa 40 Jahre. Ich bin mir nicht sicher, ob er ganz nüchtern ist. Mit dem Gedanken an Rudi im Kopf, frage ich ihn, ob er mich ins Stadtzentrum von Odessa bringen kann. Er murmelt etwas Unverständliches, ich frage ihn nochmals. Schließlich weist er mich mit einer Handgeste an, auf dem Beifahrersitz platz zu nehmen. Ich erkundige mich nach dem Preis für die Fahrt. Er sagt, es koste 150 Hrywnja (ca. 5 Euro), ich willige ein. Mühevoll bringt er seinen Sitz in die aufrechte Position und nach mehreren Versuchen startet der Motor widerwillig.
Der Wagen ist in einem erbärmlichen Zustand. Mit 80 Sachen rumpeln wir über die schlechten Straßen, die Stoßdämpfer schlagen bei nahezu jeder Unebenheit durch. Als in etwa hundert Metern Entfernung eine Ampel auf Rot umschaltet, beginnt er zu bremsen. Es poltert fürchterlich, die Bremsen des desolaten Fahrzeugs gehen komplett auf Eisen. Er fragt mich, ob ich ihn gleich bezahlen könne, er habe nicht mehr viel Sprit im Tank. Ich reiche ihm einen 200-Hrywnja-Schein und sage, dass er den Rest behalten kann. Er bedankt sich herzlich, ich kann seine Freude über die windigen 50 Hrywnja Trinkgeld spüren. Wir kommen ins Gespräch, er heißt Andrej. Was ich hier draußen mache will er wissen, ich erzähle ihm nur, dass ich in einem Nachtklub war. Ob ich aus Odessa stamme, fragt er. Ich kläre ihn auf, dass ich aus Deutschland komme.
Er lächelt, zeigt seine schlechten Zähne. Aber wenigstens hat er noch welche. Dann beginnt er, von Deutschland zu schwärmen, von sauberen und intakten Straßen, schönen Autos und einem besseren Leben. Ich frage ihn, ob er schon einmal in Deutschland war. Er verneint, das könne er sich nicht leisten. Er sei erschöpft, den ganzen Tag nur am Arbeiten, viel zu wenig bleibe hängen. Ich glaube ihm, er ist ein ehrlicher Mann, gezeichnet vom Leben. An der Mittelkonsole hängt ein Bild von ihm und einer jungen Frau. Unter Quietschen und Ächzen bremst er, steuert sein Taxi um Bahngleise und tiefe Schlaglöcher. In Deutschland gäbe es so etwas bestimmt nicht, bemerkt er. Ich bejahe es, will sein Bild vom Paradies nicht zerstören. Als wir uns dem Zentrum nähern, führt ihn sein Navigationssystem irre, er verfährt sich, findet das Hotel nicht.
Schließlich erblicke ich durch eine Seitenstraße die Lichter der Prachtmeile und weiß wieder, wo wir sind. Ich bitte ihn, an der Kreuzung zu halten, denn die letzten zweihundert Meter kann ich auch zu Fuß gehen. Bevor ich aussteige, stecke ich ihm noch ein paar Scheine zu und er kann sein Glück kaum fassen, bedankt sich überschwänglich, nennt mich einen Bruder. Ich hätte ihm gerne noch mehr gegeben, aber ich weiß nicht, wie viel Geld ich in dieser Nacht noch brauchen werde. Wir verabschieden uns und ich mache mich auf den Weg zum Hotel. Unterwegs begegne ich dem Krückenbettler, er würdigt mich keines Blickes. Mir soll es recht sein. Endlich im vierten Stock, an der Rezeption unseres Hotels angelangt, stelle ich fest, dass Kristina heute Dienst hat.
Ich bin erleichtert, sie zu sehen, denn ich habe den Eindruck, dass sie nicht gerade auf den Kopf gefallen ist und sicher weiß, was zu tun ist. Ich schildere ihr, was geschehen ist. Sie eröffnet mir zwei Möglichkeiten. Entweder, sie rufe die Polizei, das könnte allerdings zwei Stunden dauern, bis jemand kommt. Außerdem wäre Polizei hier korrupt. Na ja, wer hätte das gedacht. Die Alternative wäre, die Hotelsecurity zu rufen, eine Art organisierte Privatpolizei. Ich hätte dann die Möglichkeit, mit ein paar von den Jungs zurück zum Klub zu fahren. Ich entscheide mich für Letzteres. Sie greift zum Hörer und telefoniert, ich nehme auf einer Couch gegenüber des Tresens platz und warte. Etwa fünf Minuten später informiert sie mich darüber, dass Rudi hier sei. Auf dem Überwachungsbildschirm kann sie sehen, wie er mit dem Aufzug hochkommt, er hat zwei Typen im Schlepptau.
Die Schiebetür des Aufzugs öffnet sich und ich bin erleichtert, Rudi zu sehen. Hinter ihm tritt der Gorilla vom Nachtklub in die Lobby und noch ein Typ, der ein Kartenterminal in der Hand hält. Ich erkenne ihn wieder, es ist einer der Männer, die versucht haben, mich aufzuhalten. Ein hagerer Typ mit stechenden Augen, ein Fiesling wie er im Buche steht. Scheinbar hat Rudi es zwischenzeitlich geschafft, den Preis auf 16000 Hrywnja zu drücken. Angeblich hätten die Mädchen die Hälfte bezahlt, behauptet der Dürre großkotzig. Das ist natürlich glatt gelogen. Rudi war schlau, er hat ihnen erzählt, dass er kein Geld habe und seine Karte im Hotel sei. Der Hagere fordert ihn auf seine Karte zu holen, ich sage ihm auf Deutsch, er solle sich Zeit lassen.
Während wir auf Rudi warten schweige ich, denn mit diesen Verbrechern habe ich nichts zu bereden. Sie glotzen mich dumm an, offenbar haben sie nicht damit gerechnet, dass ich schon hier bin. Rudi taucht wieder auf und versucht mehrfach mit der Karte die 16000 Hrywnja zu bezahlen, was jedoch nicht funktionieren kann, da seine Karte ein Limit hat. Er mimt den Ahnungslosen und spielt auf Zeit. Kurz darauf geht erneut der Aufzug. Die Tür öffnet sich und spuckt drei bullige Typen aus. Unsere Security ist da. Ihr Anführer ist ein durchtrainierter Typ mit kurz geschorenen Haaren. Der Auftritt seiner Springerstiefel hallt auf dem gefliesten Boden wider und er trägt eine kugelsichere Weste über seiner schwarzen Uniform. Er ist ungefähr in meinem Alter, ich schätze ihn locker auf 100 Kilogramm lebende Kampfmasse. Er sieht aus, als hätte er wirklich etwas drauf, ein Typ, mit dem ich mich ungern anlegen würde.
Am Gesichtsausdruck des Gorillas kann ich erkennen, dass er sich das wohl nicht so vorgestellt hat. Er befindet sich auf fremdem Terrain, hier hat er nichts zu sagen. Dem Hageren scheint es die Sprache zu verschlagen. Kristina übernimmt das Reden und klärt die Sicherheitsleute über die Situation auf. Sie wollen das Foto von der Rechnung sehen, welches ich geschossen habe. Ich reiche mein Smartphone herum, sie diskutieren untereinander, lachen, schütteln die Köpfe. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Jungs auf unserer Seite sind. Die Aufzugtür öffnet sich wieder und zwei weitere Männer treten heraus, sie gehören ebenfalls zu unserer Security. Von ihren Kollegen werden sie über die Situation informiert. Der Fiesling hat angefangen zu telefonieren, offensichtlich mit seinem Chef. Der Gorilla steht dumm in der Ecke und wirkt plötzlich gar nicht mehr so mächtig.
Langsam scheint den beiden zu dämmern, dass die Abzock-Nummer wohl doch nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt haben. Nach einigem Hin- und Her wollen sie plötzlich nur noch 8000 Hrywnja. Rudi solle mit ihnen zum Geldautomaten gehen und die Summe abheben. Ich übernehme das Reden und mache unmissverständlich klar, dass Rudi nirgendwo hingeht. Ich sage, dass wir maximal das bezahlen, was wir wirklich bestellt haben. Der Hagere telefoniert wieder, schließlich verschwindet er mit samt seinem Kartenterminal im Aufzug, der Gorilla folgt ihm. Einige Minuten später kehrt der Gorilla mit zwei Polizisten zurück, der Dürre bleibt verschwunden. Die Polizisten und unsere Security begrüßen sich mit Handschlag. Die Geschehnisse werden erneut aufgerollt, damit auch die offizielle Polizei im Bilde ist.
Die Polizisten sagen, wir sollten doch die 8000 Hrywnja bezahlen, dann wäre die Sache erledigt. Ich sage Nein und nenne einen Preis, der weit darunter liegt. Der Gorilla schüttelt den Kopf, die Polizisten geben sich ratlos, einer spricht in sein Funkgerät. Wieder einige Minuten später betritt ein weiterer Polizist die Lobby. Ein junger Mann mit weichem Gesicht, seine Schultern sind mit Abzeichen verziert. Offensichtlich ist er der Chef der anderen Polizisten. Mittlerweile befinden sich zwölf Leute in der kleinen Lobby. Wieder wird die Situation dargelegt, auch er will das Foto von der Rechnung sehen. Die Diskussion dreht sich im Kreis, der Gorilla will 8000 Hrywnja sehen, ich bleibe hart und sage, wir bezahlen nichts, was wir nicht bestellt haben. Der Oberbulle redet mit Kristina, dann fängt er an, unsere Integrität infrage zu stellen.
Mir platzt der Kragen. Ich bin müde, entnervt und mein Russisch kommt an seine Grenzen. Ich erkläre dem Vogel auf Englisch lautstark, dass wir die Ukraine unterstützen, in dem wir hier Urlaub machen und Geld in dieses Land bringen. Dass wir das Gesetz achten, die gastfreundlichen Menschen schätzen und gerne hier sind. Ich zeige auf den Gorilla und sage, dass derartige mafiöse Betrüger das Ansehen der ehrlich arbeitenden Bevölkerung bis ins Mark beschämen. Unverhohlen verweise ich auf die Perfidie dieser Abzock-Masche und füge an, dass es keinerlei Beweis dafür gibt, dass wir diesen verdammten Champagner bestellt, geschweige denn konsumiert haben. Kristina übersetzt freundlicherweise und gibt meine Aussage unverblümt auf Russisch wieder. Der Oberpolizist sieht mich mit betroffenem Gesichtsausdruck an. Wieder fangen sie an, untereinander zu diskutieren und zu beratschlagen.
Schließlich sagen die Polizisten, wir müssten die 8000 Hrywnja nun bezahlen oder ich müsse mit ihnen gehen. Dies sei ein guter Kompromiss und es führe auch kein Weg daran vorbei. Wieder bleibe ich hart und sage Nein. Anschließend trete ich an die Beamten heran und sage, sie sollen mich mitnehmen. Ratlosigkeit macht sich breit und langsam wird auch den örtlichen Sheriffs klar, dass ich bereit bin, das ganz große Fass aufzumachen. Der Gorilla telefoniert wieder mit seinem Chef und ich kann hören, wie er ihm meinen Vorschlag unterbreitet. Plötzlich ist er einverstanden. Es scheint ihm lieber zu sein, wenig zu bekommen, als gar nichts. Ich gebe Rudi das OK, er kramt das Geld aus seiner Hosentasche. Natürlich bezahlen wir in Euro, denn wechseln sollen diese Hunde gefälligst selbst.
Der Gorilla bekommt ein paar Scheinchen in die Hand gedrückt, damit er sich endlich verpisst. Er verschwindet mit den drei Polizisten im Aufzug und die Situation löst sich in Wohlgefallen auf. Mit der Abzock-Prämie wird es wohl heute nichts und auch das Schmiergeld für die Cops wird mager ausfallen. Von den noch immer anwesenden Leuten der Security ernte ich anerkennende Blicke und Worte des Lobes. Ich scheine sie sichtlich beeindruckt zu haben. Ich gebe ihnen allen die Hand, bedanke mich bei jedem Einzelnen für die Unterstützung. Nach einer herzlichen Verabschiedung verschwinden auch sie im Aufzug. Zu zweit bleiben wir an der Rezeption zurück, unterhalten uns mit Kristina, denn eigentlich gebühren Dank und Anerkennung größtenteils ihr.
Sie attestiert mir, dass ich ein schwieriger Mensch sei. Ich antworte, dass ich das wisse und dies auch der Grund sei, warum mir keine Frau bliebe. Sie lacht, als hätte ich einen Scherz gemacht. Meine direkte deutsche Art hat offenbar für einiges an Irritation gesorgt. Hierzulande scheint man derartige Probleme eher dezent anzusprechen. Mir ist es gleich, denn meine Methode war erfolgreich und die Situation wurde im gegebenen Rahmen bestmöglich gelöst. Als ich endlich ins Bett falle, ist es kurz vor fünf Uhr früh. Die nächsten Tage wollen wir nutzen, einen Teil des heute gesparten Geldes unter die ehrlichen Leute zu bringen. Der größte Teil der ukrainischen Bevölkerung arbeitet viel und hart für wenig Geld. Die Gedanken kreisen mir noch lange im Kopf herum, ich muss an die Menschen denken, die uns geholfen haben.
Ich muss leider auch an die schlechten Menschen denken und frage mich, ob die dummdreiste Cracknutte wegen der versauten Abzock-Nummer wenigstens eine ordentliche Tracht Prügel kassieren wird. Morgen werde ich mir über das Nachspiel für diese Leute Gedanken machen. Denn eines ist sicher, das lasse ich nicht auf mir sitzen. Vor allem aber, weil morgen schon wieder die nächsten ahnungslosen Opfer in diesen Klub gekarrt werden und damit beiläufig auch noch sämtliche touristischen Bemühungen der Ukraine skrupellos konterkariert werden. Zudem wünsche ich niemandem dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Zumindest kann ich jedoch nicht behaupten, man würde nichts erleben in Odessa. Letztendlich übermannt mich dann doch der Schlaf.