Rabotnik in Odessa – Teil 5
Während der nächsten Tage lassen wir uns treiben. Odessa hat mich fest im Griff, ich habe mich gut akklimatisiert, vermisse meine Heimat nicht. Unser Erlebnis hat meine Wahrnehmung geschärft und mich sensibilisiert, jedoch lasse ich mir den Spaß nicht nehmen. Bereits am Morgen danach hat unsere Story die Runde gemacht, jeder im Hotel weiß Bescheid. Heute regnet es, jedoch ist der Regen hier im Vergleich zu Deutschland angenehm und auch die aus der Heimat gewohnten Temperaturstürze, um mindestens 20 Grad Celsius, bleiben aus. Wenn es in Odessa regnet, weiß man, dass es auch wieder aufhört und nicht wochenlang durch schifft. Allerdings habe ich mittlerweile verstanden, warum die Einheimischen trotz schönstem Wetter teilweise mit langen Hosen und Jacken herumlaufen.
Durch die Nähe zum Meer zieht gelegentlich ein strenger Wind durch die Straßen und Gassen. In der Sonne verbrennt man zwar, im Schatten hingegen hat man schnell das Gefühl zu erfrieren. Es empfiehlt sich also, selbst bei Sonnenschein immer eine Jacke mit sich zu führen, zumindest an windigen Tagen. Ansonsten ist die Atmosphäre der Stadt mediterran angehaucht. An manchen Ecken in Odessa denkt man, das könnte auch irgendwo in Süditalien sein. Auch dort findet man ähnlich marode Gebäude und Straßenzüge. Nach dem deftigen Frühstück verlassen wir das Hotel für einen Rundgang. Vor dem Haupteingang stehen zwei Männer in Uniform, sie bewachen einen im Hinterhof parkenden Geldtransporter. Sie sind schwer bewaffnet, der eine trägt eine Kalaschnikow, der andere hat eine Pumpgun auf den Rücken geschnallt.
Wir schlendern den Prospekt entlang und halten uns in Richtung Bahnhof, der etwa drei Kilometer entfernt liegt. Vor den besseren Hotels und Geschäften stehen immer Sicherheitsmänner, teils in militärischen Uniformen. An zahlreichen Gebäuden hängen Überwachungskameras. Kurz vor dem Bahnhof erreichen wir einen großen Markt. Umgeben von hektischem Treiben, schieben wir uns durch das dichte Gedränge. Ich umgreife fest den Inhalt meiner Hosentaschen, denn an solchen Orten ist stets Vorsicht geboten. Taschendiebe gibt es auch in Odessa, wenn vielleicht auch nicht ganz so viele wie in Prag, Rom oder Barcelona. Wir passieren einen Stand, an dem ein Mann deutsche Ausgaben von Hitlers »Mein Kampf« zum Verkauf anbietet. Ich würde allerdings nicht eine müde Kopeke für diese erbärmliche Schandschrift ausgeben.
Die Gegend um den Markt ist extrem dreckig, überall liegt Müll. Wir halten uns weiter Richtung Bahnhof und passieren einen Park. Dieser wirkt gegensätzlich gepflegt und sauber, auch der obligatorische Springbrunnen darf nicht fehlen. Die Bänke sind von Menschen gesäumt, jeder wirkt beschäftigt. Das Betreten der Rasenflächen ist per Verbotsschild untersagt, wieder fühle ich mich an die deutsche Heimat erinnert. Mitunter scheinen die Parks in Odessa einen sehr hohen Stellenwert zu genießen. Sie sind nahezu alle tadellos gepflegt und man erkennt deutlich, dass in diese Freizeitanlagen ordentlich Geld investiert wird. Ich beobachte ein paar spielende Kinder. Auch hier zeichnet sich ein markanter Kontrast zur deutschen Heimat ab.
Die Kinder hier verhalten sich überwiegend brav und scheinen noch in der Lage zu sein, sich selbst zu beschäftigen. Man hört kaum Geschrei und auch etwaige Konflikte scheinen friedlich gelöst zu werden. Ganz im Gegensatz zu Deutschland, wo die plärrenden Bälger 24 Stunden am Tag dauerbespaßt werden müssen und in der blanken Verzweiflung der entnervten Eltern schließlich das Smartphone gereicht bekommen. Wir verlassen den Park, passieren den Bahnhof und halten uns nun in Richtung Strand. Als wir kurz darauf ein Wohnviertel passieren, fühle ich mich an ein wenig an die Bronx erinnert. Erneut offenbaren sich uns die Extreme dieser Stadt, die schmale Kluft zwischen Arm und Reich, zwischen aufstrebendem Wachstum und allgegenwärtigem Verfall.
Entlang der Hauswände verlaufen wilde Kabelstränge, die Mühe, Internet und Telefon in der Wand zu verlegen, macht man sich hier offensichtlich nicht. Der Fokus liegt auf anderen Dingen, die deutsche Ordnung sucht man in diesem Punkt vergeblich. Ich bewundere die geschmierte Kunst, welche hier den Großteil der Mauern ziert. Sie enthält allerlei politische Botschaften, aber auch moderne Elemente aus unserer Welt scheint man hier zu kennen. In einer Unterführung begegnen wir einer alten Frau, die Akkordeon spielt und in einer Tasche auf dem Boden Geld sammelt. Wir lassen ihr ein paar Scheine da. Ich spreche sie an und frage, ob ich ein Foto für meinen deutschen Internetblog machen dürfe. Sie erlaubt es. 82 Jahre sei sie alt und habe einen 60-jährigen Sohn, der sie kaum unterstütze, erzählt sie uns.
Deshalb sitze sie täglich hier und spiele alte russische Lieder. Für ihr hohes Alter wirkt sie sehr fidel. Diese Frau ist wirklich arm, aber sie musiziert, lässt sich den Lebensmut nicht nehmen, nimmt davon Abstand, aufdringlich zu betteln. Am Treppenaufgang sitzt ein weiterer Mann in gekrümmter Haltung, er hält einen Becher in der Hand. Unschwer ist er als Obdachloser zu erkennen. Verwahrlost sieht er aus, dreckig, das Gesicht vom Leben gezeichnet, sein Körper vom Alkohol zerfressen. Auch ihm stecke ich etwas Geld zu. Mit leuchtenden Augen nimmt er es entgegen und erzählt mir etwas Unverständliches, ich verstehe nur »Danke« und »Bruder«. Nach unserem Ausflug kehren wir erst einmal ins Hotel zurück. Etwas essen, schreiben, den Tag Revue passieren lassen, bevor wir uns erneut ins Nachtleben stürzen.
Wir sitzen im Restaurant des Hotels, als andere Gäste die laut schrillende Klingel auf dem Bestelltresen betätigen, weil dieser gerade nicht besetzt ist. Die Küchentür öffnet sich und der stets mies gelaunte Hotelkoch streckt den Kopf heraus. Sein tödlicher Blick trifft die erschrockenen Gäste, sie entschuldigen sich sofort. Wortlos verschwindet er wieder in der Küche und lässt die Tür lautstark hinter sich zu fallen. Ich kann mir ein lautes Lachen nicht verkneifen, denn zwischenzeitlich kenne ich ihn. Er spricht selten, lacht nie und hat stets einen Blick auf, als hätte er gerade ein Blutbad im Sinne. Für einen durchschnittlichen Monatslohn von umgerechnet 150 Euro würde ich vermutlich auch nicht anders herumlaufen. Im späteren Verlauf des Abends fällt mir eine weitere Besonderheit in Odessa auf. Man trifft kaum Betrunkene, weder in den Lokalen, noch auf der Straße.
Während sich in Deutschland und ganz besonders in Österreich junge Menschen ganz ungeniert bis zum völligen Kontrollverlust besaufen, gibt man sich hier im Nachtleben ungewohnt gesittet. Entweder hat man hier eine höhere Wertschätzung gegenüber der eigenen Gesundheit oder es wollen sich einfach die wenigsten einen Vollrausch leisten. Vielleicht ist hier aber auch einfach der Massenalkoholismus nicht derart gesellschaftsfähig, die Gehirne noch nicht vollends von kapitalistischer Alkoholwerbung im westlichen Stil indoktriniert. Gemütlich lassen wir den Abend ausklingen und unser mutmaßlich schwuler Kellner bringt strahlend die Rechnung. Rudi scheint ihm besonders gut zu gefallen, ich amüsiere mich köstlich. Vielleicht hätte er besser doch keinen Sex on the Beach bestellen sollen.
Mit Homosexualität geht man in Odessa offen um, es scheint hier im Gegensatz zum großen Bruder Russland, keine Stigmatisierung stattzufinden. Lesbische Pärchen streifen händchenhaltend durch die Straßen und es gibt sogar einige spezielle Herrenklubs. Wie man es eben von einer weltoffenen Stadt erwartet. Allerdings erkennt man die Lesben hier sofort eindeutig als solche, da es die einzigen Frauen sind, die mit kurzen Haaren herumlaufen. In unserer Heimat ist dies leider nicht so, wie wir zu unserem großen Bedauern feststellen. Am nächsten Tag steht eine Bootstour an, es geht raus aufs Schwarze Meer. Sie dauert etwa eine Stunde, und der Preis liegt bei 150 Hrywnja pro Person. Wir können das Ticket auf 250 Hrywnja für uns beide drücken.
Wie zu erwarten ist es kalt, windig und unspektakulär. Aus einem Lautsprecher dröhnt altbackene Sowjetmusik, dazwischen berichtet eine Erzählstimme auf Russisch über die Sehenswürdigkeiten Odessas. Auch geschichtliche Aspekte der Stadt werden beleuchtet und es wird über die kulinarischen Besonderheiten aufgeklärt, sowie Werbung für einige Lokale gemacht. Nach der Bootstour folgt unser obligatorischer Rundgang durch die Stadt. Vor einem Polizeirevier parkt ein schwarzer SUV, das Fahrzeug ist von Kugeln durchlöchert. Auch das Verbrechen hat Tradition in Odessa und die stetige unterschwellige Präsenz der Mafia scheint fester Bestandteil des Flairs dieser zerrütteten und doch so wundervollen Stadt zu sein.
Ohne Zweifel ist Odessa eine Stadt mit zwei Gesichtern. Sie zieht dich in ihren Bann, küsst dein Herz, erschreckt dich, tritt dich und spuckt dich anschließend wieder aus. Du verfällst ihr und willst mehr. Das bunte Treiben auf den Straßen wirkt ruhig, die Masse gemächlich. Man genießt das Leben, scheint sich mit wenig zufriedenzugeben. Geld scheint hier nichts weiter als Mittel zum Zweck zu sein. Den ständigen Drang nach besser, schneller, höher, weiter, wie man es aus Deutschland gewöhnt ist, vermag man hier kaum zu spüren. Die Menschen tragen nicht diesen, von der ewigen Jagd nach Geld und Anerkennung durchtränkten Blick. In Odessa ist man einfach Mensch, niemand versucht einem zu sagen, wie man zu sein hat, niemand will einem sein Weltbild aufzwingen.
Natürlich treten auch die Schattenseiten deutlich hervor. Man erzählt uns, dass die medizinische Versorgung hier überwiegend miserabel und teuer sei, die Löhne sind extrem niedrig, staatliche Sozialleistungen gibt es kaum, jeder Fünfte lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Polizei ist korrupt. Man kann eben nicht alles haben und alles hat seinen Preis. Auffallend ist jedoch, dass niemand wirklich klagt. Man scheint die Missstände als solche hinzunehmen und sich damit zu arrangieren. Deshalb geben wir den ehrlichen Menschen immer gerne ein gutes Trinkgeld, denn wir wissen, sie können es gut gebrauchen.
Abends in unserer Bar sitzend, lasse ich das Straßenbild auf mich wirken. Auf dem Bürgersteig ziehen Menschentrauben vorbei, ein Rudel Straßenhunde, zwei junge Frauen auf Pferden, eines ist bemalt wie eine Giraffe. Ein dunkler Wagen hält an der Ampel, das Bassgedröhne, welches aus seinem Inneren schallt, löst die Alarmanlage eines parkenden Autos aus. Sobald die Ampel wieder umschaltet wird gehupt, gerast, überholt. Einfach verrückt, diese Stadt. Auch der falsche Krückenbettler und seine Kollegen sind wieder da und treiben ihr Unwesen.
Überhaupt scheint sich der größte Teil des Nachtlebens auf der Straße abzuspielen, doch das ist mir bereits aus anderen Ländern bekannt. In Deutschland wäre dies wohl kaum möglich, da sich innerhalb von wenigen Minuten Anwohner und Nachbarn gestört fühlen würden. In Odessa nimmt man die Geräuschkulisse der Nacht als normale Gegebenheit hin, intolerante Spießer sucht man vergeblich. Wehmütig denke ich an unsere bevorstehende Abreise.